Clubstitut

„Mit 35 Jahren will ich nicht mehr auf dem Dancefloor stehen!“, beendet ein Freund seine Erklärung, weshalb er demnächst beim Feiern etwas kürzer treten möchte. Ich kann seinen Entschluss absolut nachvollziehen. Ich bin allerdings schon 36 Jahre und obwohl ich mir jedes Wochenende vornehme zu Hause zu bleiben, findet man mich am Ende trotzdem im Club. Mit Anfang Zwanzig hatte ich das so für mein Leben nicht geplant. Ich war der festen Überzeugung, dass ich mit Mitte Dreißig einen sehr viel konservativeren Lifestyle pflegen würde. Offensichtlich war das etwas voreilig von mir, denn seit meiner Pubertät hat sich mein Lebensstil nur unwesentlich verändert. Statt einer festen Beziehung und zwei Kinder, hatte ich in dieser Woche zwei Kater, denn die einzig feste Beziehung führe ich mit Vodka. Ich bin nicht unzufrieden mit meinem Leben, wie es ist, doch manchmal kommen mir berechtigte Zweifel, dass ich das Erwachsenenalter in diesem Leben noch erreiche.

Alter ist kein Zustand, sondern vielmehr ein Entwicklungsprozess und nirgends lassen sich die Phänomene des Altersstrukturwandels besser beobachten als in Berlin – der Stadt, wo Dreißig das neue Zwanzig ist. Übrigens einer der Gründe, weshalb ich hergezogen bin. Die Stadt schien mir der perfekte Ort um all den Pflichten, die einen nach Abschluss der Uni erwarten, zu entkommen. Hier musste ich mich für nichts rechtfertigen. Niemandem erklären, weshalb ich keinen „9 to 5“- Job und weder heiraten noch Kinder kriegen wollte. Berlin bot mir Möglichkeiten all das zu tun, was ich immer tun wollte – selbst wenn ich nicht wusste, was ich tun will. Während ich in meiner Heimatstadt bereits zu den Ältesten im Club zählte, machte ich in der Clubkultur der Hauptstadt die Erfahrung, dass das biologische Alter keine Rolle spielt, solange du umringt von Menschen mit ähnlichem ‚Peter Pan Syndrom’ eine kollektive Altersphase teilst. Ich fühlte mich zu Hause. Ich fühlte mich verstanden. Doch leider sind Phasen geprägt durch einen Anfang und ein Ende, und so drängte sich mir schon bald die Vermutung auf, dass ich etwas verpassen könnten, wenn ich meinen Lebensstil konsequent durch alle Lebensphasen beibehalte.

„Bist du glücklich?“ – eine Frage, die ich mir häufig stelle und welche ich grundsätzlich mit ‚Ja!‘ beantworten kann. Trotzdem ertappe ich mich gelegentlich dabei, wie ich bis mittags im Club sitze, eine Menge neuer Freunde gemacht habe, deren Namen ich bereits am nächsten Tag vergessen habe und obwohl ich nicht nach Hause will, doch irgendwie gelangweilt bin. Nicht unglücklich, aber gelangweilt. Ich habe bereits jede Party gefeiert, jeden Exzess mitgenommen und mich mehr als ausgelebt. Längst bietet mir das Nachtleben nicht die Erfüllung wie es mit Mitte Zwanzig der Fall war. Doch aus einer Art Routine halte ich meine vertrauten Verhaltensmuster, an vertrauten Partyschauplätzen, aufrecht und nennen dieses Phänomen das „Clubstitut“: Der Club als Ersatz für irgendwas, von dem ich selbst noch nicht ganz weiss, was es eigentlich ist.

Mit Ersatzbefriedigung kenne ich mich übrigens aus. Darin bin ich Expertin. Einen miesen Tag kann ich mit Schokoladeneis kompensieren, den Frust im Job durch Frust-Shopping lindern und den Herzschmerz im Alkohol ertränken. Niemand lehrt einem ja mit Enttäuschungen so wirklich konstruktiv umzugehen, daher habe ich im Laufe meines Lebens einen Blumenstrauß an Ersatzbefriedigungen gesammelt, aus denen ich wähle, wenn das Leben mal wieder nicht so läuft, wie ich das gerne hätte. „Ersatzbefriedigung“ ist übrigens auch meine Antwort, wenn die Wissenschaft erneut versucht eine „Drogenpersönlichkeit“ zu definieren oder in den Medien nach Antworten gesucht wird, weshalb Drogenkonsum normal geworden zu sein scheint. Glückliche Menschen ballern nicht. Das jedenfalls meine Theorie. Das Ausweichen auf Ersatzbefriedigung ist eine Bewältigungsstrategie und tatsächlich die klügste Handlungsmöglichkeit, die man zu dem Zeitpunkt an dem man sich für sie entscheidet, hat. Wer das bezweifelt, sollte ehrlicher reflektieren. ‚Aus Genuss‘, ‚zur Entspannung‘ oder ‚aus Spaß‘ sind keine Argumente die das Gegenteil beweisen, sondern lediglich ein Zeichen von Ersatzbefriedigung. Vielmehr müsste man sich an dieser Stelle fragen, wie das Leben oder die Situation sein müsste, dass sie auch ohne die jeweilige Ersatzbefriedigung ein Genuss oder eine Entspannung ist und Spaß macht. Ob als Belohnung oder aus Gruppenzwang – Ersatzbefriedigung bleibt Ersatzbefriedigung. Ich will das an dieser Stelle nicht werten und auch gar nicht mahnend den Zeigefinger heben, denn manchmal bin ich dankbar, mir das Leben schön saufen zu können und die Möglichkeit zu haben, mich gesellig oder wach zu machen, wenn ich es eigentlich nicht bin. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille und von einer anderen Perspektive aus betrachtet ist Ersatzbefriedigung durchaus eine Form des Selbstmanagements: Ich bringe mich aus einem Zustand, in dem ich nicht sein will, in einen anderen Zustand. Ob dieser Zustand nun schlechter oder besser und diese Form der Bewältigungsstrategie eher konstruktiv oder destruktiv ist, sei ebenso dahin gestellt, wie die Frage der Nachhaltigkeit. Ich denke am Ende hat jeder von uns schon mal die Erfahrung gemacht, dass sich Probleme nicht in Alkohol auflösen.

Kommen wir also zurück zu meiner Vermutung, dass ich etwas verpassen könnten, wenn ich meinen Lebensstil beibehalte und ich mich weiterhin mit Ersatzbefriedigung zufrieden gebe. Doch was wäre es dann, was ich verpasse? Aktuell ist es nicht mehr als ein Gefühl, dass da noch ‚mehr‘ sein könnte im Leben – mehr Sinn, mehr Nachhaltigkeit. Ein Gefühl in Kombination mit der Beobachtung, dass wir immer mehr verlernen, dass gute Dinge Zeit brauchen um sich zu entwickeln. Doch weder geben wir den Dingen Zeit, noch haben wir die Geduld, um sich irgendwas entwickeln zu lassen. Wir wechseln Wohnort, Job und Partner öfter als Elton John seine Brillen, wenn etwas nicht sofort unseren Vorstellungen entspricht. Statt an einer Beziehung zu arbeiten tindern wir. Die Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen wurde durch Tinder, the endless stream of options, wahrscheinlich noch verstärkt, denn uns quält der Gedanke, dass noch etwas besseres kommen könnte – nicht nur bei der Partnerwahl. Die Qual der Wahl macht uns handlungsunfähig, die Wahlfreiheit wird zum Paradox und so drehen wir uns im Kreis, denn wir erwarten, dass das Leben sich ändert ohne dass wir uns ändern. In meinem Fall bedeutet das also, dass ich auch mit 36 Jahren noch immer im Club stehe, weshalb ich den sozialen Wandel von der Tanzfläche aus beobachte. Nicht, dass ich es auf der Tanzfläche nicht schön finde, ich will nur wissen, weshalb ich noch immer hier stehe.

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‚Clubstitut’ ist eine Kolumne über meine Beobachtungen und Erlebnisse im Berliner Nachtleben. Ein Tagebuch über das Erwachsen werden und meiner Vorstellung davon, wie Erwachsen werden sein müsste, dass man es überhaupt werden will und sich nicht davor im Club versteckt. In den Hauptrollen DJs, Thekenpersonal, Türsteher und Partyveteranen wie ich oder mein Kumpel, der trotz Ankündigung beim Feiern kürzer treten zu wollen nie wirklich kürzer getreten ist, obwohl sich das 35. Lebensjahr unaufhaltsam nähert.