War dies nun der letzte Zug? Wurde der Zug der Liebe letztlich eingeholt vom aggressiven Zeitgeist und der, damit einhergehenden Idiotie Einzelner, denen jegliche Anstandsgrenze abhanden gekommen ist? Ein paar Flaschenwerfer, Angriffe auf Einsatzkräfte und ein Messer. Das ist die Bilanz der Polizei. Im ersten Satz ihrer Meldung schätzt sie die Demonstration allerdings trotzdem als „Überwiegend störungsfrei“ ein.
„Überwiegend störungsfrei“ und „Nicht ganz störungsfrei.“
Die erste Wertung verwendete die Polizei für Berlin. Die zweite für Chemnitz an diesen Wochenende. Der Zug der Liebe muss sich damit abfinden, im vierten Jahr ein paar krakeelende Flaschenwerfer und einen messerzückenden Wicht im Gepäck zu haben. Die saubere Bilanz ist dahin. Und in Chemnitz jagen 5000 Neonazis andere Menschen. Dazwischen liegen Welten.
Rechnen wir mal durch.
Auf dem ersten Zug der Liebe 2015 gab es 18 Vorfälle. Dieses Jahr waren es 48, das ist definitiv eine Steigerung, aber es gab auch doppelt so viele Teilnehmer wie letztes Jahr. Auf anderen Großveranstaltungen wie CSD und KdK sind es übrigens über 100 solcher Vorfälle. Jedes Jahr.
„Nicht ganz störungsfrei…“ Es ist wichtig die Polizeiberichte für diese beiden Ereignisse zusammen zu bringen, denn es ist erstaunlich, wie Medien etwas aufbauschen können, während Regierungsvertreter gleichzeitig anderes klein reden. „Überwiegend störungsfrei“ und „Nicht ganz störungsfrei.“
Woran lag es?
Beim Zug der Liebe waren dieses Jahr rund 400 Polizisten im Einsatz. Selbst für 25.000 Teilnehmer ist das wenig. Man könnte enzyklopädisch analysieren bis runter auf die Ebene, dass:
1. Der Berliner Senat mit seinen Einsparungen für personelle Knappheit bei der Polizei sorgte.
2. Das die Gefahrensituation zwar seit Amri höher angesetzt wurde, unser Demopublikum aber als überaus friedfertig gilt, und somit keine Notwendigkeit für mehr Einsatzkräfte bestand.
3. Oder man den simplen Ansatz aus dem Nachtleben nicht beachtete: Zur Primetime einfach mehr Türsteher im Club. Das wäre genau die eine Stunde zwischen 21 und 22 Uhr gewesen.
4. Man könnte auch einfach mies sein, und sagen… diese Ecke da, das ist ja schon AfD Einzugsgebiet. Ist natürlich Quatsch und ein Abschieben von Verantwortung.
Ganz unwahr ist es allerdings trotzdem nicht.
Was ist genau passiert?
Auf dem Live Stream der Demo, der noch verfügbar ist, erkennt man, dass 5 min nach Ende des Zugs noch alles ruhig war. Aber einigen am Rande hat nicht gepasst, dass die Machenschaften der AfD auf der Abschlusskundgebung klar benannt wurden. Von diesem Rand flogen dann die Flaschen. Die Polizei strömte zügig in den dunklen Bereich um die Demo. Dort wurden alle Passanten festgehalten. Bei der Durchsuchung wurde bei einem der Anwesenden eine große blutende Wunde am Oberschenkel festgestellt. Die Polizei holte sich vom Rednerwagen eine Fahne als Sichtschutz und brachte den Mann ins Krankenhaus.
Und nun?
Die Polizei hat seit 2015 ihren Job großartig gemacht. Punkt. Und jedem, der an den Attacken gegen Rettungs- und Einsatzkräfte beteiligt war… ihr seid erbärmlich. Menschen, die euch und die Demonstration beschützen, auch vor möglichen Anschlägen; die euch helfen, weil ihr euch ohne jedes Maß habt volllaufen lassen… diese Menschen verletzt ihr? Anyway… wahrscheinlich werdet genau IHR das eh nicht lesen, denn ihr hasst die Ziele des ZDL und habt eure hässliche Fratze gezeigt.
Warum setze ich mich mit den Geschehnissen überhaupt auseinander?
1. Weil Tagesspiegel und Morgenpost es getan haben. Ziemlich reißerisch, was mich verwunderte.
2. Weil auch ich geschockt war, dass es den ZDL nun „erwischt“ hat.
Die TAZ hat die Polizeimeldung übrigens auch verarbeitet, nur war die journalistisch so vernünftig und weitsichtig, für eine Stellungnahme anzufragen und es als Interview zu publizieren. Nachzulesen HIER. Danke für die Professionalität, die andere vermissen ließen, und wo sich der Verdacht aufdrängt, dass Chemnitz und Berlin in einigen Redakteursköpfen auf gleichem Level verschmolz.
Ich sitze derweil kopfschüttelnd vor dem Fernseher und sehe gerade eine Stadt förmlich UNTERGEHEN. Der Staat kann seine Bürger nicht mehr schützen. Vor NEONAZIS! Anders kann man das für Chemnitz nicht sagen. Wäre das ein Hollywood Film, würde der Präsident die Nationalgarde schicken, die Neonazis zusammentreiben lassen in ein Stadion, und nach ein/zwei Nächten zum Mütchen abkühlen, lebenslanges Hausverbot für diese Stadt erteilen, das bei Nichtbefolgung mit einem halben Jahr Knast endet. Wenn besorgte Bürger immer sagen, dass sie sich nicht mehr vor die Tür trauen, jetzt hätten sie das erste Mal wirklich Recht.
Der Zug der Liebe meldete für Berlin einen Besucherrekord. Aber es war nicht nur die Menge. Alle hatten das Gefühl, Teil eines wunderbaren Ganzen zu sein, dass der Zug der Liebe nun definitiv zur Stadt gehört. Der ZDL hat mit seinem WIR ZUSAMMEN FÜR ETWAS wirklich Großartiges geschaffen. Eine Demonstration, die Menschen verbindet, Gemeinsames fördert, Diversität feiert, und Öffentlichkeit für Helfer schafft. Eine Demonstration, die trotzdem Missstände klar benennt, die sich nicht verkauft und ohne Einfluss von Politik oder Religion ihren Weg geht. 50.000 oder gar 100.000 sagten 2018 laut JA zu Nächstenliebe, sagten laut JA zu einer offenen Gesellschaft. In Chemnitz waren es 5000, die NEIN brüllten.
Chemnitz und Berlin. Beides sind Ausnahmezustände. Der eine für Hass und Gewalt. Der andere für Toleranz und Nächstenliebe. Es steht wohl außer Frage, welcher für eine Gesellschaft wichtiger ist. Und auch, welcher von beiden dringender gebraucht wird und unbedingt weiter machen sollte.