Mit dem Festival Strom widmet sich die Philharmonie Berlin zum ersten Mal und zwei Tage lang ganz der elektronischen Musik. Die von Stefan Goldmann kuratierte Veranstaltung erstreckt sich auf drei Aufführungsorte: den großen Saal der Philharmonie für audiovisuelle Darbietungen, das Foyer für tanzbare Sets und schließlich den Hermann-Wolff-Saal mit einer Installation. Strom verbindet die einzigartige Architektur der Philharmonie mit Auftritten hervorragender internationaler Künstler. Ihr Schaffen basiert auf repetitiver elektronischer Musik, weist jedoch weit über die Grenzen funktionaler Clubmusik hinaus. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Gestalt und Wirkungsgrad ihrer Genres erweitert oder gänzlich neue Musikgattungen bestimmend geformt haben. Sie haben Brücken zu anderen Kunstsparten geschlagen oder neue kulturelle oder technologische Schichten erschlossen. Zudem unterstreicht das Line-up die wachsende internationale Bedeutung der elektronischen Musik jenseits ihrer Wurzeln in Westeuropa und Nordamerika – mit Künstlern, die u.a. aus Bulgarien, Chile, Japan, dem russischen Sibirien sowie Tunesien stammen. Strom bietet keinen Klassik-Crossover, sondern präsentiert herausragende individuelle Leistungen. Diese bewegen sich auf höchstem künstlerischen Niveau, beschreiten formal und technologisch aber andere Wege als die zeitgenössischen Komponisten, deren Werke üblicherweise in der Philharmonie erklingen.
picture credit Peter Adamik
Fr, 07. Feb 2020, 20:00 Uhr
Philharmonie
Karten: 13 bis 52 €
Sa, 08. Feb 2020, 20:00 Uhr
Philharmonie
Karten: 13 bis 52 €
An den beiden Abenden des Festivals werden je rund sieben Stunden Musik geboten – mit einem spannungsvollen Wechsel zwischen den Räumlichkeiten, zwischen unterschiedlichen Ausdruckswelten und Aufführungsformaten. Vier Künstler wurden eingeladen, um ein sitzendes Publikum in einer konzentrierten Hörsituation anzusprechen. Da ist zunächst das österreichische Duo Kruder & Dorfmeister, das mit seinem elektronischen Downtempo-Sound weltweit beispiellose Erfolge gefeiert hat. Außerhalb des Tanzbaren haben Kruder & Dorfmeister mit ihren »Private Collection«-Mixes Konzepte eines Auflegens für intimes Hören vorgelegt, bei dem statt der kinetischen die klangliche Qualität – das »Studio als Instrument« – im Mittelpunkt steht. Mit ganz anderen Mitteln produzierte der in Chile geborene und in Großbritannien aufgewachsene Cristian Vogel in den 90er-Jahren eine Reihe einflussreicher Alben für Labels wie Mille Plateaux, Tresor und Novamute. Der studierte Komponist Vogel verschob darin die Grenzen von Techno erheblich. Vor einiger Zeit erklärte er seine Arbeit für die Clubs für abgeschlossen. Heute reicht sein Schaffen von Werken für elektronische Soloinstrumente bis zu großformatigen Gesamtkunstwerken, die Mehrkanalwiedergabe, Rauminstallationen und Tanz zusammenführen. Bei seinem Auftritt in der Philharmonie dürfen wir uns auf filmische Ebenen und spannungsgesteuerte Bühnenobjekte freuen: eine digitale Form des experimentellen Musiktheaters.
Das Schaffen von Ryoji Ikeda entsteht an der Schnittstelle von elektronischer Musik und zeitbasierter Kunst. Daraus leiten sich digitale Performances und Installationen ab, die gewaltige Datenmassen in komplexe audiovisuelle Erlebnisse übersetzen. Um ein vollständiges Eintauchen in Ikedas Performance zu ermöglichen, wird die Saalbeleuchtung abgedunkelt.
Stefan Goldmann hat Techno formal in vielfacher Hinsicht erweitert und dessen Möglichkeiten auf Arbeiten für akustische Ensembles, für Film, Ballett und Musiktheater übertragen. Er hat ortsspezifische Konzertformate für so unterschiedliche Orte wie das Los Angeles County Museum of Art oder den Honen-in-Tempel in Kyoto entwickelt. Auch für seinen Auftritt beim Strom-Festival gestaltet er ein Konzert, dass speziell auf die Raumsituation des großen Saals zugeschnitten ist. Hierbei wird er mit dem argentinischen Videokünstler Javier Benjamin zusammenarbeiten.
Die sich über mehrere Ebenen erstreckenden asymmetrischen Formen des Foyers der Philharmonie Berlin bilden den räumlichen Rahmen für den tanzbaren Teil des Festivals. Die Hauptkünstler sind hier das sibirische Techno-Phänomen Nina Kraviz und der aus Bulgarien stammende KiNK, der sich als einer der führenden Live-Acts von House und Techno einen Namen gemacht hat. Beiden Künstlern ist gemeinsam, dass sie abseits der nordamerikanischen und westeuropäischen Zentren der Clubkultur mit dieser Musik in Berührung gekommen sind und ihre Ansätze aus der Perspektive der Peripherie entwickelt haben. Durch politische und sozioökonomische Grenzen vom Kern der Szene abgeschnitten, haben sie sich auf völlig anderem Wege als ihre westlichen Mitstreiter die Techno-Kultur und deren Instrumente erobert. Kennzeichnend ist für beide der außerordentlich tiefgründige Umgang mit nur unter Schwierigkeiten zu erschließenden, begrenzten Ressourcen – zu erleben mit den von KiNK virtuos und in Echtzeit auf der Bühne gehandhabten Geräten und in den breit gefächerten DJ-Sets von Nina Kraviz, in denen sie einen Bogen spannt zwischen teils obskuren Wiederentdeckungen und unveröffentlichten, oft für ihr Label T… produzierten Stücken. So setzt sich Kraviz heute immer wieder für geografisch isolierte Künstlerinnen und Künstler ein wie Exos und Bjarki aus Island, Vladimir Dubyshkin aus dem südrussischen Tambow, Roma Zuckerman aus dem sibirischen Krasnoyarsk, aber auch Veteranen aus Detroit, der Geburtsstadt von Techno, wie K-Hand oder Terrence Dixon.
Auch die tunesische Künstlerin Deena Abdelwahed nutzt ihren kulturellen Hintergrund als Ausgangspunkt für den Entwurf einer alternativen Musikgeschichte: Wie würden House und Techno klingen, wenn Araber sie erfunden hätten? Der Berliner Don’t DJ hingegen schafft eine mit elektronischen Mitteln erzeugte, fiktiv »exotische« Musik, mit der er die Themen kulturelle Aneignung und Hybridisierung aufgreift. Der französische Künstler Voiski wiederum wirft einen mitunter ironischen Blick auf die Geschichte der Tanzmusik – mit Verweisen auf frühen Elektro und Trance, die er aber konzeptionell auflädt und in reduziert groovende, moderne Formen übersetzt.
Die dänische Komponistin und Live-Performerin SØS Gunver Ryberg verfolgt demgegenüber einen Ansatz, der weniger Beziehungen zu anderen Musikern und Stilen knüpft und stark auf Technologie setzt. Damit entsteht eine elektronische Musik, die sich nur schwer in bestehende Genres einordnen lässt. Hierfür wie auch für ihre Klanginstallationen und Bühnenperformances stützt SØS Gunver Ryberg sich vor allem auf Synthese, komplexe Klangbearbeitung und verfremdete Feldaufnahmen, um Klangmassen dramatisch in Bewegung zu versetzen.
Ähnlich den Geräten, die Anfang der 1980er Jahre fast zufällig die Entwicklung von House und Techno auslösten, ist die Software Live des Berliner Unternehmens Ableton eines der heute am weitesten verbreiteten wie praxisbestimmenden Werkzeuge für die Produktion und Aufführung elektronischer Musik. Wenig überraschend steht Technologie auch im Zentrum des Schaffens von Live-Mitentwickler Robert Henke, der sich nach wichtigen Beiträgen zur elektronischen Musik zunehmend auf großformatige Werke konzentriert, in denen Software, digital erzeugte Klänge und Laser interagieren. Seine Installation Phosphor greift Ideen und Prozesse auf, die vor diesem Hintergrund entstanden sind, kommt aber vollkommen ohne eine klangliche Ebene aus. Stark gebündelte ultraviolette Lichtstrahlen zeichnen temporär erstrahlende, sich wandelnde, abstrakte Landschaften auf einen Untergrund aus Phosphorstaub. Im Rahmen von Strom wird Phosphor zum ersten Mal in Berlin gezeigt und für die Dauer des Festivals in einem eigenen Raum installiert.